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Sarah Eichner (Doktorandin)

Dieses Projekt ist der Versuch einer transformativ-phänomenologischen Annäherung an das Yijing im Horizont der Problematik des Raumgebenden. Diese Problematik tritt auf eine prägnante Weise in Platons Timaios unter dem Namen chôra auf. Von dort aus öffnet sich ein Spektrum von möglichen Deutungen, durch deren gegenläufige Tendenzen sich ein für die heutige Philosophie konstitutives Spannungsfeld ausmachen lässt.

Chôra wird von Platon als ein triton genos eingeführt, das weder der Ordnung des Sinnlichen noch der des Intelligiblen angehört. Sie nimmt am intelligiblen Sein auf eine höchst unerklärliche Weise teil, indem sie die Abbilder des Intelligiblen Seins in sich selbst aufnimmt, ohne jedoch selbst ihre Gestalten anzunehmen. Als „Aufnehmerin, gleichsam Amme allen Werdens“ bleibt sie selbst vollkommen form- und bestimmungslos. In dieser Ursprungsfigur zeigt sich die doppelte Valenz von einem als Fundament identifizierbaren Urgrund und einem sich der Einholbarkeit und Benennung entziehenden Ungrund. Platons Chôra kann als ein Versuch betrachtet werden, hinter den voraussetzungslosen Anfang der Metaphysik zurückzugehen und jenseits des Denkbaren auf ein absolut Vergangenes hinzudenken. Der Begriff des Unvordenklichen ist in der postmodernen Philosophie, auf exemplarische bei  Derrida, zu einem Schlüsselwort der Uneinholbarkeit des Ersten geworden und bildet ein Gegenkonzept zum identifizierenden Ursprungsdenken. Diese metaphysikkritische Haltung wurde zunehmend auch, vor allen Dingen im Kontext der späteren Philosophie Heideggers, mit zen-buddhistischen Konzeptionen in Verbindung gebracht, wo die komplexe Thematik der Leere von zentraler Bedeutung ist.

Im Hinblick auf das Spektrum des Raumgebenden kann das Spannungsverhältnis zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik nicht einseitig aufgelöst werden. Die dekonstruktive Linie alleine wird der Komplexität der chôra nicht gerecht, insofern das differenzielle oder sich entziehende Element innerhalb einer dynamischen Mikro-Immanenz thematisiert wird, deren Verbindung zum relationalen Ganzen jene der Unterbrechung, Zäsur oder Heterogenität (d. h. raumnehmend und nicht raumgebend) ist. Als Ermöglichungsgrund der Gesamtordnung des Erscheinenden (Kosmos) erschöpft sich das Denken der chôra nicht in einer reinen Differenz, sondern hat auch einen strukturell-integrierenden, aufnehmenden und zugleich freigebenden Aspekt. Phänomenologisch betrachtet weist chôra als das Raumgebende auf eine Ur-Passivität hin und kann als die Matrix der Phänomenalität angesehen werden.

Eine solche Figur, wie Platon sie in Gestalt der chôra gedacht hat, und wie sie bereits ausgehend von einer buddhistischen Interpretation des Raumgebenden als eine Brücke zu ostasiatischem Denken konzipiert wurde, tritt gerade auch innerhalb des klassischen chinesischen Denkens im Yijing zutage. Innerhalb der Gesamtarchitektonik des Yijing ist vor allen Dingen das zweite Zeichen von zentraler Bedeutung: Kun, Das Sich-Fügen [der Erde], das sich besonders für eine phänomenologische Entwicklung des Komplexes Ort/Raum eignet. Kun ist sowohl konkreter Nährboden zur Ausbreitung von dimensionierten Lebenskörpern als auch Sinnbild des reinen Raumes. Während die sichtbare Erde Ortscharakter hat, kommt der unsichtbaren Erde Raumcharakter zu, sofern letztere jegliche Form von Verortung erst möglich macht. In der Überkreuzung von Verortbarkeit und Unverortbarkeit eröffnet sich die Möglichkeit einer transformativen Phänomenologie. Letztere ist mit der Einübung in jene Leere verbunden, die im Yijing als Raum-Erde erscheint, und deren Wirksamkeit in der reinen Absichtslosigkeit besteht.

Das Projekt versteht sich in diesem Sinne als einen Versuch, der nicht nur auf einen Ausgleich des oben skizzierten Spannungsverhältnisses zwischen Affirmation und Dekonstruktion des Ursprungs zielt, sondern darüber hinaus die Forderung einer Praxis einsichtig machen soll, die es ermöglicht, dasjenige des Raumgeschehens, das sich in eine (diskursive) Unverfügbarkeit hinein verschließt, durch eine Einübung in die Leere der Erde zu reintegrieren und daraus ein transformatives Wissen zu gewinnen, das zur Kultivierung eines Ethos des Unverfügbaren.