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Sergej Gordon (Doktorand)

Die filmische Repräsentation der Wirklichkeit markiert einen Paradigmenwechsel in der ontologischen Erfahrung von Orten. Als Medium, das der Materialität der Welt verhaftet ist, simuliert der Film die zeitlich fixierte Erfahrung des ursprünglichen Drehortes. Hierbei setzt sich der Film von anderen medialen Repräsentationen, etwa der schriftlichen, auditiven oder fotografischen dank des stereokinetischen Effektes ab. Er vermag den Prozess der Immersion – der identifikatorischen Verschmelzung mit einem virtuell reproduzierten Ort – in besonderer Weise zu stimulieren.

Besonders die filmische Erfassung von mythischen und geschichtsträchtigen  Orten, die kollektiv semantisiert sind, ist relevant für virtuelle Identitätskonstruktionen. Denn der Film fungiert als Medium der Wiederverortung in einer Welt, in der konnektive Strukturen sich nach der Krise der Nationalstaaten zunehmend extraterritorial konstituieren, wie im Falle Mexikos.

Das Dissertationsprojekt analysiert Formen und Funktionen von Mnemotopen unter den medialen Bedingungen der filmischen Konstitution und Erfahrung von Orten. Das Konzept des Gedächtnisortes (Mnemotop) des Kulturwissenschaftlers Jan Assmann, das er in seiner Studie zum kulturellen Gedächtnis in Anlehnung an Maurice Halbwachs und Pierre Nora prägt, scheint im Zeitalter des spatial turn eine nahezu kontrazyklische Verwendung des Ortsbegriffs zu sein. Assmann spricht von Mnemotopenim Hinblick auf Orte, die eine hohe symbolische Bedeutung für ein kollektives Gedächtnis besitzen.

Der Begriff der Mnemotopie wird im Projekt mehrfach erschlossen und für kinematografische Belange operationalisiert: Zunächst wird er in einen grundsätzlich konzeptuellen Bezug zu den Besonderheiten der filmischen Repräsentation gebracht, sodann als kulturgeschichtliche Kategorie der Identitätsstiftung auf den mexikanischen Kontext bezogen und schließlich anhand eines Corpus einschlägiger Filme exemplarischen Analysen unterzogen. Als paradigmatisches Referenzwerk soll in dieser Hinsicht das unvollendete Filmprojekt ¡Qué viva México! des russischen Regisseurs Sergej Eisenstein aus dem Jahre 1930 dienen, das als frühes filmisches Dokument eine prägnante Selektion mexikanischer Gedächtnisorte vornimmt.

Das Phänomen der Mnemotopie im Film wird im Rahmen des Kollegs in Bezug auf innovative filmische Ortsinszenierungen untersucht. Eine leitende heuristische These ist dabei, dass diese Inszenierungen wesentlich als Sakralisierung und Profanisierung von Orten verstanden werden können. In diesem Zusammenhang soll fürderhin herausgearbeitet werden, inwiefern die filmische Reproduktion von Mnemotopen in ¡Qué viva México! mexikanische Gemeinplätze und emblematische Orte neu semantisiert und damit in einen konstruktiven Dialog zu den zeitgenössischen Diskursen der mexicanidad tritt. In einer abschließenden Beobachtung wird die gesellschaftliche Funktion der Mnemotopie im Film an den ausgesuchten Beispielen der sogenannten Época de oro des mexikanischen Kinos aufgezeigt und die Prozesse ihrer weiteren Kanonisierung untersucht.